Es war ein seltsames Gefühl, diesen Weg nach so langer Zeit noch einmal zu gehen, ohne sich vor schrecklichen Überraschungs-LEKs im Matheunterricht bei Frau Siegert zu fürchten, von Herrn Dr. Mertins mit einer Freundschaftsfünf abgestraft zu werden oder bei Herrn Sotschek irgendeine abstruse Herleitung an der Tafel vor allen Leuten zustande zu bekommen, obwohl man in den letzten drei Jahren Physikunterricht bisher nur verstanden hatte, dass falsch geschaltete Widerstände ziemlich abartig stinken, wenn man den selbst gebastelten Stromkreislauf in Brand setzt, weil der Lehrer die Konstruktion vorher nicht abgenommen hatte.
Und nun steht sie also immer noch da, so selbstbewusst zwischen den Kiefern und Eichen, die Flatow-Oberschule. Die Fassade strahlt etwas heller als früher, die Basketballkörbe bei den Fahrradständern sind verschwunden und der Hausmeister hat aus seinem schmucklosen Wachhäuschen am Eingang eine grüne Wohlfühloase gemacht.
Wir, der Abijahrgang 2004, waren fast alle zu unserem ersten Klassentreffen gekommen, um zu sehen, was sich verändert hat, was in den neun Jahren unangetastet geblieben ist und vor allem, was die Schulzeit mittlerweile aus uns gemacht hatte. 62 mehr oder weniger ambitionierte Sportler waren wir damals gewesen, haben uns durch Wahlpflichtfächer, Leistungskurse und PW-Klausuren bei Frau Schuhmacher bis zur Hochschulreife gemausert. Regelmäßige sportliche Eignungstests, so wie heute, mussten wir allerdings nie bestehen, sonst wären die Klassen sicherlich im Laufe der Jahre immer kleiner geworden. In der Mensa gab es damals weder eine Terrasse, noch drei verschiedene Salatöle, sondern beim Nachholen sexistische Witze vom schielenden Koch. Der Raucherhof war der beliebteste Ort der ganzen Schule und an den Wänden hing keine Ahnengalerie der besten Absolventen, sondern Rauputz in Pastell.
Nur Wenige von uns hatten sich in den letzten neun Jahren regelmäßig gesehen, einige seit dem letzten Schultag nie wieder.
Unweigerlich stellten sich wohl alle die selben Fragen: Würde man sich wieder erkennen, werden sich die alten Grüppchen bilden, wer ist bereits Mutter oder Vater, wer wohnt noch in Berlin, wer ist wiedergekommen und wer ist zum Entsetzen aller unfassbar dick geworden? Ernüchternd mussten wir feststellen, dass sich kaum jemand äußerlich verändert hatte. Einige sind tatsächlich Mutter oder Vater geworden, sind von weit her wieder in ihre gefühlte Heimat zurückgekehrt oder tingeln noch immer durch die Weltgeschichte. Die alten Freundschaften haben überdauert, manche Sympathien waren neun Jahre lang stehen geblieben wie ein Film, den man am Abend des Abschlussballs am 11.6.2004 auf Pause gedrückt hatte und am 19.10.2013 an genau der selben Stelle weiter laufen ließ.
Frau Gießler war inzwischen von der Stellvertreterin zur Schulleiterin aufgestiegen, Direktor Sunkel dafür im Ruhestand. Herr Pascke, unser Bibliothekar, Herr über Atlanten und Klassensätze „Die Leiden des jungen Werther“, war wegrationalisiert worden, stattdessen gab es jetzt Brandschutztüren. Im ersten Stock entdeckten wir alte Kunstwerke unserer 7. Klasse auf den Gängen. Mit unserem damaligen Lehrer, Herr Abramowski, hatten wir unsere Lieblingsstars mit Schablonen an die Wand gesprüht. Dort sind sie nun unsterblich geworden: Janet und Michael Jackson, Bryan Adams, die Spice Girls und Magic Johnson. In der Aula, in der heute keine Abiturprüfungen mehr geschrieben werden, setzten wir uns auf die grünen Polstermöbel, die damals noch rot waren, jedenfalls in unserer Erinnerung, entdeckten nie geahnte Verstecke für unsere Spickzettel und ließen immer einen Platz und eine Reihe zwischen uns frei, wie früher, als man so noch verhindern wollte, dass keiner vom anderen abschreibt.
Wir waren überrascht, wie viel und gleichzeitig wenig sich verändert hat. Was geblieben ist, ist Frau Gießlers Sarkasmus mit dem sie bis heute die als Selbstvertrauen getarnten Unzulänglichkeiten heranwachsender Schulkinder erträgt und der erste Blick beim Betreten des Foyers, der auch neun Jahre später noch dem Vertretungsplan gilt und die Schließfächer, die die 90er Jahre konserviert haben. Nur die Schule ist eigenartig erwachsen geworden, sie ist so viel sportlicher und schlanker als früher. Wenn mich heute jemand nach meiner Schulzeit fragt, sage ich nicht ohne Stolz: Ja, man mag es mir nicht unbedingt ansehen, aber ich besuchte einst eine Eliteschule des Sports. Sportbetontes Gymnasium hatte irgendwie immer uncool geklungen.
Christin